Donnerstag, 19. September 2013

Fillip der Erdling



Es war Mittwoch, der 23. Oktober, 8.24 Uhr. 

Fillip saß auf der Toilette und schlug die Tageszeitung auf. Das war einer der schönsten Augenblicke jedes Tages. Max und Jule saßen im Bus in Richtung Schule in der Kleinstadt, Gabi im Auto nach Berlin, um das Geld der Familie bei ihrer Versicherung zu verdienen. Also natürlich nicht bei ihrer, sondern bei der, bei der sie arbeitete, jener nicht nur aus der Werbung bekannten. Fillip war stets bemüht, den Namen nicht zu nennen. Dann kämen diese wissenden Blicke: Versicherung, na ja … und dann noch die …

Jetzt aber lag der Morgenstress hinter ihm und jeder denkbare Tagesstress noch in der Ferne. An alle waren Küsschen verteilt, den Kindern war ein ausgewogenes zweites Frühstück eingepackt und, ja, er hatte aufgepasst, dass jeder wie immer seine wichtige erste Mahlzeit des Tages im Kreise der unaufgeregten Familie einnahm, Jule hate er noch einmal bestärkt, dass bei der Mathearbeit überhaupt nichts passieren könne, weil sie ja gelernt habe und er kontrolliert habe, dass sie den geforderten Stoff beherrsche. Schließlich hatte er hinter dem abgefahrenen Opel das Hoftor geschlossen, die Zeitung gegriffen und …

Na, jedenfalls saß er nun entspannt auf der Brille und stellte fest, dass man ihm die Wahl laß, sich entweder zu ärgern oder zu gruseln: Ein furchtbarer Tornado sei über Wisconsin hinweggeweht. Mehrere Orte seien zerstört, bisher 78 Tote geborgen worden. Dazu ein Foto von etwas Verwüstetem.

Fillip wollte sich nicht ärgern und sich gruseln auch nicht. Wisconsin war schließlich in den USA und dort gab es eine Jahreszeit mit vielen Tornados. Die kamen aus der Karibik und … Lag Wisconsin eigentlich an der Küste? Und gehörte der Oktober zur Tornadozeit? Fillip legte die Zeitung auf die Waschmaschine. Die erhoffte totale Entspannung wollte sich an diesem Morgen einfach nicht einstellen. Vielleicht hätte er nur den Sportteil aufschlagen sollen. Ob nun Hertha oder Union oder dieses Türkiyedingsbums nicht gewonnen hätte, ,,, Es hätte ihn alles nicht berührt. Nun war aufzuräumen und dann …




Immer noch Mittwoch, 23. Oktober, inzwischen 10.12 Uhr. 

Das Haus war bereit, eventuelle Gäste zu empfangen. Es würden zwar keine kommen, denn wer wollte ausgerechnet Ende Oktober und mitten in der Woche eine Übernachtung in der Schorfheide, aber die Dame im Jobcenter meinte, es sei das Wichtigste in seiner Lage, sich diszipliniert an klar fixierte Tagesabläufe zu halten und sich immer konkret abrechenbare Aufgaben zu stellen. Seine Lage … Fillip schüttelte den Kopf. Bis vor kurzem war er täglich nach Berlin reingefahren für einen Buchhaltungsjob, den er nicht nur mit 46, sondern auch noch mit 67 ertragen hätte. Inzwischen gab es seinen Arbeitgeber nicht mehr und irgendwie fehlten Fillip die Spezialkenntnisse, sich auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu präsentieren. Das war seine Lage. Und eben jener Disziplin wegen stand von 10.30 bis 11.30 Uhr auf Fillips persönlicher Agenda „Internet, Direktsuche, neue Stellenangebote prüfen“.

Fillip Wegerich nannte sich gern konservativ. Er arbeitete noch immer an einem fast klassischen Computer. Nicht, dass er etwas gegen die handlichen Dinger für die Aktentasche gehabt hätte. Aber die verlangten auch unterwegs nach Benutzung und er war kein Multitasking-Typ. Ihm hatte als Fortschritt gereicht, so einen internetfähigen Fernseher zu haben, den er der Einfachheit halber meist weiter Computer nannte, weil er ja alle Funktionen erfüllte. Nur der Bildschirm war größer und schöner.

… Funktionen erfüllte?! Hochgefahren war das verdammte Ding ja schnell wie immer. Aber dem Befehl, ihn ins Internet zu bringen, verweigerte sich das widerspenstige Gerät. Was war denn nur los?

Fillip hatte sich mit derartigen Problemen noch nie beschäftigt. Er wusste natürlich, dass man in seiner Gegend lange kein Internet hatte empfangen können, als fast schon die ganze Welt versorgt war. Aber nun …? Es war doch alles …

10.25 Uhr. 

Wenn eine Störung auftritt und das Gerät ist nicht kaputt, dann tritt dieselbe Störung auch bei anderen auf, die sich gleich beschweren. Fillip hält das für eine Selbstverständlichkeit. Darauf darf er sich verlassen. Er selbst war kein solcher Sich-gleich-beschweren-Typ. Mochten sich doch andere wichtig tun, er würde in Ruhe abwarten. Die Situation war im Gegenteil ein guter Vorwand, vom üblichen Tagesablauf abzuweichen. Er würde also jetzt fernsehen und seine Jobrecherche am Nachmittag nachholen.

Das war doch nicht möglich! Fillip zappte immer nervöser von Sender zu Sender. Auf dem Bildschirm zeigte sich ein schwaches Krisseln oder wie die Leute in der Anfangsjahren des Fernsehempfangs diese Punkte genannt hatten. Einfacher gesagt: Da war kein Bild. Fillip konnte sich nicht daran erinnern, so etwas jemals selbst erlebt zu haben. Aber eigentlich war das immer noch kein Grund zur Beunruhigung. Dann sah er sich eben bis zum Mittag einen heruntergeladenen Film an. Es würde schon niemand merken, dass er wieder einmal nicht jenes Musterbeispiel an Selbstdisziplin war, als das er von Gabi den Kindern gegenüber hingestellt wurde.. Schon waren Fillips Gedanken mit der Frage beschäftigt, welcher Film ihm denn in dieser Situation am meisten zusagen würde. Seltsamerweise fiel ihm dabei die Jobcenterdame ein: „...in Ihrer Lage ...“

12.40 Uhr. 

Ach du Schreck! Hatte er etwa das Bäckerauto verpasst? So gegen halb eins hielt es normalerweise an der Kreuzung. Es war einfach praktischer, sich sozusagen direkt vor Ort frisch einzudecken, als sich auf den weiten Weg zum nächsten Bäcker zu machen. Nur Gabi sah es nicht gern, wenn er außer der Reihe abends noch ihr Auto haben wollte und dann war das Zeug auch nicht mehr frisch. Wenn er bei Günther anriefe? Der wusste bestimmt, ob der Bäcker schon durch war.



Es knackte merkwürdig in der Leitung, dann ertönte Günthers aufgeregte Stimme, noch bevor Fillip etwas sagen konnte: „Dassn Ding, was? Die Aliens haben die Macht übernommen. Jetzt passiert mal was in der Welt ...“ Günther redete und redete, aber Fillip verstand überhaupt nicht, was der dicke Alte da erzählte. Unschlüssig betrachtete er den Hörer, Er runzelte die Stirn, dann hielt er den Hörer weit vom Ohr weg, unsicher ob er zuhören oder auflegen sollte. Komischer Kauz. Schien gerade durchzudrehen. Tja, der Suff … Dann aber kam Fillip eine Art Erleuchtung. Hatte es so etwas Verrücktes nicht schon einmal gegeben? Das musste irgendwann in den 50er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen sein. Da hatten sie in Amerika ein Hörspiel über die Invasion von Marsmännchen gesendet und viele Leute waren in Panik ausgebrochen. Ob gerade so eine Sendung lief? Es war sowieso ein missratener Mittwoch. Da konnte er sich auch noch einen zweiten Film genehmigen. Vor drei Uhr war sowieso niemand zurück. ,,,

Welcher nun bin ich?



Die Faszination des Unerlaubten hat mich im Griff. Was ist denn in unserer Welt verboten? So gut wie nichts. Aber diese Kapsel bedeutet Gefahr, eine schwer einzuschätzende Gefahr. Umso mehr zieht sie mich an.

Ich habe sie sogar schon benutzt. Ich bin hineingegangen, habe im Sessel Platz genommen, den Countdown abgewartet … und dann war ich in der Zukunft und habe von dort den Gentransmitter mitgebracht.

Nun wollen alle reisen wie ich. Ich aber … In meinen Träumen sehe ich mich auf der Kommandobrücke eines vorzeitlichen Schiffes, die Hand am Steuerrad. Ein Albtraum. Ich kann es nämlich nur in eine Richtung bewegen, obwohl ich weiß, es müsste sich rechts und links herum drehen lassen. Ausgerechnet in die Richtung, in die ich will, darf ich nicht. In all diesen Träumen unterwerfe ich mich und mein Schiff versinkt. Das heißt, ich spüre noch eine gewaltige Erschütterung und dann erwache ich mit Schweiß bedeckt und du bist vor so langer Zeit schon gestorben und das, verdammt, ist kein Traum! Werde ich denn nie darüber hinwegkommen?

Natürlich gehörten die Gründe für die Ablehnung einer Reise in die Vergangenheit zu meiner Ausbildung als Temp-Pilot. Nicht nur das Großvaterparadoxon. Aber schon damals drängten mich theoretisch bewiesene Unmöglichkeiten nur dazu, doch eine praktische Möglichkeit zu suchen. Verdammt, ich will nicht meine Vorfahren umbringen … ganz im Gegenteil!

Warum nur ließ ich dich damals abfliegen? Wenn ich nein gesagt hätte, du hättest auf mich gehört. Es geht nicht um mich, obwohl es auch um mich geht. Natürlich hätte ich es niemandem gegenüber eingestanden, um keinen Preis der Welt. Aber ich fühle mich schuldig. Wegen eines unausgesprochenen Satzes bist nicht nur du, sondern ist auch die keimende Frucht unserer nicht entfalteten Liebe im Nichts verloren gegangen. Und nun brülle ich morgens mit mühsam unterdrückter Stimme mein Spiegelbild an: „Nein, ich bin kein Egoist!“ Dabei kann ich nicht einmal sagen, was ich am ehesten damit meine: Dass ich dich, euch habe in den Tod gehen lassen, weil ich mich nicht von Anfang an euphorisch auf die Frucht unserer spontanen Intimität gefreut hatte, oder dass ich dich nicht längst nachträglich gerettet habe oder dass ich genau das immer wieder erwäge, obwohl ich weiß, dass das für das Leben einer unbekannten Zahl von Menschen im Jetzt eine unwägbare Gefahr sein kann. In den ersten Jahren hatte ich mich fast damit abgefunden. Schicksal. Es war ja nicht ungeschehen zu machen. Aber seit ich weiß, dass ich es vielleicht doch ungeschehen machen könnte … Inzwischen habe ich bereits das Verständnis für Vorher und Nachher, für Gut oder Böse verloren. In grauen Vorzeiten sollen die Menschen einmal gebetet haben: „... und führe uns nicht in Versuchung!“ Oh, wie gut kann ich sie verstehen, jetzt, da ich täglich gegen die Versuchung ankämpfe, mein und dein Schicksal durch eine Reise in die Vergangenheit zum Guten zu wenden. Ich kann, ich will nicht mehr!

Es ist soweit. Die Raum-Zeit-Koordinaten jenes Augenblicks, an dem ich jenes verfluchte „Aber natürlich freu ich mich mit dir; fahr nur!“ sagte, habe ich mehrmals mit verschiedenen Methoden durchgerechnet. Auch die nötige Frist, die ich in jener Zeit bleiben muss und die Koordinaten, von denen ich automatisch wieder zurückgeholt werden möchte.

Ein getränktes Tuch. Alles Andere ist wie immer. Die Identitätstests, die Tore, die Tür der Kapsel. Diesmal aber rufe ich Chris vor der Verriegelung der Kapseltür zu, mir sei was Wichtiges für sie eingefallen. Sie vertraut mir, liebt mich wahrscheinlich, obwohl ich ihre Gefühle nie erwidern könnte. Ich habe richtig spekuliert. Chris lacht, lässt mich aus der Kapsel zurückspringen, sich umarmen und küssen, und sie beachtet nicht, dass mein zweites Durchschreiten der Tür die Automatik blockiert. Genau diese Zeit brauche ich gegen die Sicherheitsroutinen. Ich greife in die Tasche und plötzlich versucht Chris mit dem Tuch vor dem Mund vergeblich, etwas zu rufen. Schon schläft sie. Bewusst habe ich bei der ganzen Aktion der Überwachungskamera den Blick auf Chris versperrt und jetzt nehme ich mir die Zeit, vermeintlich zärtlich Abschied nehmend die Frau vorsichtig in ihren Sessel zurückgleiten zu lassen und sie so zu drapieren, dass ihre geistige Abwesenheit nicht sofort ins Auge fällt. Später wird sie sich weder daran erinnern, dass sie geschlafen hat noch was davor passiert ist. Sie wird mich weder verraten wollen noch können.



Ich ersetze an ihrem Pult die Zielparameter in der Zukunft durch meine in der Vergangenheit liegenden, setze die Verweildauer auf 15 Minuten fest und aktiviere den automatischen Countdown. Zurück in der Kapsel verfolge ich äußerlich gelassen den Schließvorgang der Tür. Dann wird mir heiß, erfasst mich die fast schon gewohnte Hitze, die suggeriert, ich sei flüssiges Gestein. Es scheint alles in Ordnung. ...

Die schwebende Jungfrau



Ein Mann Anfang 40 betrat den virtuellen Saal mit militärisch festem Schritt. Er trug die Offiziersuniform der Raumflotte, hatte allerdings die Rangabzeichen verdeckt. Etwa in der Mitte des freien Platzes zwischen der erhöht sitzenden Jury und den Zuschauern blieb er stehen und salutierte in Richtung der Vorsitzenden Richterin. Dass der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt war, richtiger, dass mehrere Hunderttausend Zuschauer meinten, einen der 400 Sitze zu belegen, schien ihn nicht zu berühren. Am wenigsten, dass eine Mehrheit dieser Zuschauer Frauen waren, die sich hauptsächlich in die öffentliche Anhörung eingeschaltet hatten, um ihn zu sehen.


„Flottenkapitän Klasse A in Prüfung Rainer Schade, geboren 14.10.315, zur Stelle.“


Es folgte die Vorstellung der neun Jurymitglieder, an deren Plätzen jeweils ein deutlich lesbares Namensschild aufgestellt war.


Diese Bilder sahen die Zuschauer an ihren heimischen Computern alle fast gleich, nur variiert durch die Perspektive des Platzes, den der Hauptcomputer der Konferenzübertragung ihnen zugeordnet hatte. Logischerweise sahen sich die Mitglieder der Jury und der Kapitän an den ihnen zugeteilten Plätzen, der Kapitän hatte den Eindruck, in den Raum hineinzugehen.


Zu aller Überraschung hob der Kapitän bereits bei der Verlesung der Vorwürfe gegen seine Person die linke Hand. Mit Erfolg. Die Richterin unterbrach ihren Satz und fragte irritiert: „Missfällt Ihnen die Geschäftsordnung, Kapitän Schade?“


„So könnte man es ausdrücken. Obwohl ich nichts gegen Formalien haben darf, sie sichern, dass jeder weiß, was er wann wie zu tun hat, sollten wir uns gegenseitig nicht die Zeit stehlen. Also ich bekenne mich schuldig im Sinne der Anklage, die Ereignisse um die „Kap der Guten Hoffnung“ verschuldet zu haben. Ich trage aber eine Schuld, die weit über die grundsätzliche Verantwortung eines Kapitäns hinausgeht und die durch meine Mannschaft nicht getragen, ja, nicht einmal geahnt werden konnte. Ich bitte darum, entgegen den Regeln des Protokolls meine Sicht zu den Ereignissen als Beitrag zur Anklage darlegen zu dürfen, und zwar möglichst ohne Zwischenfragen, auch wenn manche Details für Sie vielleicht keinen Zusammenhang mit der Katastrophe zu haben scheinen. Ich beantrage also, die Vorwürfe, mein Verhalten betreffend, diesen Ausführungen entsprechend zu erweitern.“


Die Vorsitzende Richterin lächelte: „Kapitän Schade, Sie wissen selbst, dass es sich hier um keine formelle Anklage handelt, sondern um eine Vorklärung, inwieweit durch Beteiligte bewusst schuldhaftes Fehlverhalten vorliegen könnte. Wir sind also noch nicht an ein Protokoll gebunden. Dies also fürs Protokoll.“


Der Hauptcomputer generierte Gelächter im Publikum. Die meisten Zuschauer fanden die Form der Zurechtweisung passend.


„Entschuldigung. Aber ich möchte endlich beginnen dürfen. Ich habe lange nachgedacht. Sicher bin ich mir in manchen Fragen nicht. Bei anderen wiederum besteht kein Zweifel. Zum Beispiel, dass ich zum Führen eines A-Klasse-Raumschiffs nicht ausreichend geeignet bin. Ich kann hier nichts mehr gewinnen. Also darf ich ...?“


Das Nicken der Vorsitzenden Richterin wirkte ungewöhnlich wohlwollend. 


„Danke. 





Es gibt zwei Möglichkeiten, wie ich anfangen könnte. Mit jenem Ereignis während der Kadettenausbildung, das so wichtig für das Folgende ist, obwohl Sie überhaupt nicht darauf einzugehen gedachten, oder dem Moment, an dem ich erstmals die Mannschaftsliste für dieses, mein erstes A-Klassen-Kommando in den Händen hielt. In gewisser Hinsicht läuft es auf eins hinaus. Schließlich fiel mir auf der Liste sofort der Name Mara Hattweiler auf. So oft gibt es den schließlich nicht, in der Raumflotte schon gar nicht. Ich musste mich also an unsere Begegnung von damals erinnern und habe es auch getan. Nicht, dass ich da die Verantwortung hätte wegschieben sollen, aber hätte ich in dem Augenblick jemanden ins Vertrauen gezogen, wären wir vielleicht gemeinsam zu einer ungefährlichen Lösung gekommen. Schließlich war ich in diesem Moment noch der Einzige, der über das notwendige Wissen verfügte. Verstehen Sie: Als ich nach dieser Zirkusvorführung damals so oft antwortete „Ich weiß nicht.“, da wusste ich ja wirklich nicht, wie die Leistung zustande gekommen war. Es machte mir aber Spaß, dass die anderen mir natürlich nicht glaubten und bei allem Spott das Ganze für Geheimniskrämerei hielten, die eben dazugehörte. ...

Sozac - Das Glück hat einen Namen


Eigentlich liebte Juliane ihr Auto. Das leise Summen im Hintergrund löste viel von der Anspannung der stressvollen Arbeitstage. Falls etwas summte! An diesem Nachmittag passierte nichts. Das Handy zeigte auch keinen Empfang … Wenn schon etwas schief ging, dann kam es gleich ganz dicke.
Wenigstens war in der Nähe ein U-Bahnhof. Juliane entschied, dorthin zu laufen und sich von zu Hause aus um den Wagen zu kümmern.
Seit fünf Jahren war sie nur mit ihrem Auto gefahren. So suchte sie etwas unbeholfen einen Automaten für Fahrscheine. Von eiligen anderen Passanten vorwärtsgestoßen, löste sich das Problem von selbst: An einer Lichtschranke wurde das Entgelt direkt von ihrem Konto abgebucht.
Vor Juliane öffnete sich eine Gasse. Ein Pärchen visierte dort die Vorbeikommenden mit einem pistolenförmigen Gerät an, ohne dass jemand davon Notiz genommen hätte. Alle gingen lächelnd weiter. Wer sollte hier schon die Sicherheit stören?
Bei Juliane stieß das Gerät ein unangenehmes Fiepen aus. Plötzlich fühlte sie sich in eine Ecke gezogen. Ungerührt strömten die nächsten Passanten vorüber. Weil auch die beiden Sicherheitsleute durch sie hindurchlächelten, erstarb Julianes Hilferuf auf ihren Lippen.
„Das gibt es also wirklich noch.“ Die Frau hatte eine angenehm warme Stimme. Juliane beruhigte sich wieder.
„Seit gut einer Stunde läuft unser Prüfprogramm. Kein Fahrgast ist aufgefallen. Alle haben wenigstens probiert, glücklich zu werden. Ihnen dürfen wir die Gelegenheit anbieten, das Glück zu testen, kostenlos und ohne irgendeine Verpflichtung. Sozac ist genau das, was Sie brauchen.“
Juliane wollte eine ausweichende Antwort geben, um auf den Bahnsteig zu kommen.
„Probieren Sie nur. Sie sehen abgespannt aus. Es wird Ihnen gut tun.“
Abgespannt fühlte sie sich tatsächlich. Und die beiden würde sie eh nicht los, ohne eine der angepriesenen Pillen abgenommen zu haben. Also streckte sie die rechte Hand aus und öffnete den Mund zum Dank. Schwupps, schon hatte die Frau Juliane eine Tablette auf die Zunge gelegt.
Ausspucken? Ein kameradschaftlicher Schulterklopfer, Juliane beugte sich vor, schloss den Mund und schluckte unwillkürlich runter. Im Aufrichten suchte sie eine abweisende Bemerkung. Dann sah sie ihnen in die Augen. Waren sie nicht nett?
„Vielen Dank auch. Alles Gute! Ciao!“
„Kommen Sie gut nach Hause!“
Juliane hüpfte die Treppe hinunter. Eine riesige Werbetafel empfing sie: „SOZAC – Das Glück hat einen Namen.“
Juliane lächelte.
Die nächste Bahn wurde mit fünf Minuten Verspätung angekündigt. Sonst hätte sich Juliane sicher über die weitere Verzögerung geärgert; nun sagte sie sich, die Bahn käme ja gleich. Entspannt betrat sie den überfüllten vorletzten Wagen. Lachend fiel sie später ihrem wartenden Sohn in die Arme. Der vergaß seine ganze Strafrede wegen der Verspätung, sobald sein erzürnter Blick auf die strahlenden Augen der Mutter traf. Zu Hause sangen die beiden nach der Hausaufgabenkontrolle eine Stunde lang Quatschlieder. Glücklich müde ließ sich Max ins Bett bringen. Nach dem Gute-Nacht-Kuss rief er: „Schön, dass es dich gibt, Mutti.“
Zum ersten Mal seit vielen Monaten schlief Juliane ohne zu grübeln ein. Sie schlief sogar durch.
Am nächsten Morgen wachte sie erfrischt auf. Nur ein merkwürdiges Pochen im Genick erinnerte an das alltägliche Grauen beim Aufstehen. Allerdings, während sie sonst mit jedem Handgriff besser in Fahrt kam, nahm diesmal das Pochen eher zu. Oder quietschte Max wirklich lauter als an den anderen Tagen? ...

Das Oppi der Reife

Schweigend beobachtete Luna ihre beiden großen Schwestern.
Mika war schon angezogen. Was die an Bräunungscreme eingesetzt hatte! Aber an diesem Tag war wohl alles erlaubt, was schön machte. Zumindest die in ihre blauschwarzen Haare eingeflochtenen roten Blüten. Auch Jasmin hatte ihre Haare ja wachsen lassen, seit ihr erster Tropfen die Wäsche weiblich gerötet hatte, um an ihrem Oppitag gut auszusehen.
Und Luna? Ihre Haare ließ sie inzwischen ohne Frisur. Noch ein Jahr und dann wäre sie dran.
Das würde Tänze geben! Dieses Kleid! Die Arme ließ es frei, über den unsichtbar angehobenen Brüsten wurde es von einer einzigen Spange zusammengehalten, an der drei Onyxe glühten. Bis über die Hüften war es eng geschnitten, um dann weit schwingend bis zu den Waden zu fallen. Schneeweiß, voller Spitzen, Volants und zarten Rüschen betonte es die Haut, die glatt aussah und dunkel wie das Ebenholz aus dem Märchen. Es machte aus Jasmin eine richtige Märchenprinzessin.
Die Haare fielen noch lose und voller natürlicher Locken über die Schultern. Frisiert würde erst nach dem Oppi. So war es Brauch. Weil dann alles schnell gehen musste, hatten die großen Mädchen wochenlang das Flechten geübt. Da würde Luna den ganzen Tag lang das Aschenputtel bleiben.
Mika hatte Sternchen aufgelegt. Trotzdem zog nur Jasmin die Blicke auf sich, als sie stolz durch die breite Gasse der erwartungsvollen Gäste zwischen Anzieh- und Operationszimmer schritt. Obwohl der Weg nur wenige Meter lang war, kostete er die Reifekandidatin mehrere Minuten. Alle wollten ein paar liebe persönliche Wünsche loswerden und das große Mädchen kurz drücken. Ihre beiden fast gleichaltrigen Schwestern waren total vergessen.
Luna wurde es schließlich langweilig. Sie schlängelte sich zwischen den Festgästen hindurch. Onkel Bori fragte gerade seine Begleiterin, ob sie sich Jasmin besser als Politikerin oder als Mutter vorstellen könne.
Na, ein Glück, dass ihr die Entscheidung abgenommen wird. Du wärst früher bestimmt scharf auf sie gewesen oder wie man das genannt hatte. Siehst du, nun bist du glücklich mit mir und alles hat seine Ordnung. Das ist eben so eine Sache mit dem Denken. Du kannst dich damit vernünftig anpassen, dann brauchtest du vielleicht gar kein Oppi, du kannst aber auch zum Aufrührer werden. Stell dir vor, du kämst dann zur Macht! Das wäre ja Revolution, wäre das ja.“

Die Frau sprach dieses Wort mit einem Ekel in der Stimme, als hätte sie einen Regenwurm in ihrem Sektglas gefunden. Von Aufrührern und Revolution hatte Luna im Geschichtsunterricht gehört. Mussten das seltsame Zeiten gewesen sein, als es noch keine geregelte Denksteuerung gab! Die Leistungsträger mussten ungeheuren Aufwand treiben, um herauszubekommen, was die Leute dachten und wie man sie unbemerkt mit geschmückten Gedanken füttern konnte, damit sie zum Schluss endlich dachten, was sie sollten. Trotzdem waren die meisten Menschen unzufrieden, es gab Schlägereien, kleine und große, Diebstahl, Mord und noch größere Verbrechen wie eben Revolutionen! Wie so schlechte Worte wohl in die Unterhaltung der Erwachsenen hineingeraten waren? Wo das doch längst Geschichte war ......

Kein zurück zur Natur

Sie hassten die Nachtwachen. Und zugleich liebten sie sie. Keine Dienstzeit bot eine so große Aussicht auf ungestörtes Abhängen. Und durch die Art des Objektes war normalerweise Erholung angesagt. Natur pur. Keine Kaserne in unmittelbarer Nähe, nur eine Zufahrt. Man mochte es Verschwendung nennen, aber es gab die Hauptstraße und eben diese Versorgungsstraße. Hier näherten sich nur Militärfahrzeuge. Wenn denn was los war. Gelegentlich war vorn was los. Irgendwelche schlafwütigen Pazifisten gingen ihnen auf die Nerven. So ein Bombodrom senke den touristischen Wert der Gegend. Gerade die zurückgezogene Stille sei ihre Besonderheit. Wanderwege, Heide, Bäume, vor allem Kiefern. Dabei … sollten die Bombenabwürfe denn in Kreuzberg oder Barmbek geübt werden? Hier war die toteste Hose und hier lag schon so viel Kampfschrott, dass es auf die paar neuen Tests auch nicht mehr ankam. „Sperrgebiet!“ Die Schilder waren ja nicht zu übersehen. Was das für ein Aufwand wäre, allein die Munitionsreste zu bergen! Also machte man weiter.
Übermäßig beliebt war der Platz bei den Soldaten nicht. Aber auch das war nicht sonderlich schlimm. Hier hatte kaum einer seinen festen Standort. Gerade einmal genügend Leute, um eben abzusichern, dass keine Lebensmüden sich im Revier herumtrieben. Nur bei Übungen war was los.
Als die beiden Gefreiten Käsich und Maurer dem Ende der Nachtwache entgegensahen, war keine Übung. Normalerweise hatte der Dienst hier einen eigenen Vorzug: So viele Vorschriften es auch geben mochte, hier wurde kaum eine ernst genommen. Warum auch? Wer hätte sie kontrollieren sollen? Dafür eignete sich die Zeit zwischen tiefer Dunkelheit und Morgendämmerung zu dummen Späßen fast so gut wie zu echten Männergesprächen.

… „Du spinnst!“, knurrte gerade der eine.
Das glaub ich einfach nicht. Und wenn sie zehnmal eine solche Wette verloren hätten. Glaubst du im Ernst, du kannst mir das weiß machen? Dass Kati vor denen gestrippt hat? Nicht Kati. Und hier schon gar nicht.“
Ronny“, erwiderte der andere erregt. „wenn ich es dir doch sage! Max hat das alles ganz genau beschrieben: Fünf Schnecken aus Bünnewitz, eben auch Kati dabei, in einem Opel Astra. Immer eine nach der anderen raus. Alle in Jeansröcken. Die als Erstes runter. Dann die T-Shirts, die Schuhe, die Zwillingsmützen … alles auf einen Haufen. Max sind fast die Augen ausgefallen. Zum Schluss haben sie ihre Strings unter die Jungs geworfen. Max hat Katis erwischt. Ein Duft … Ein Duft sag ich dir …“
Ach, halt´s Maul! Wer weiß, wo er den her hatte.“
Trotzdem starrte Ron auf die leere Straße in Richtung Siedlung, als würde im nächsten Moment ein Oldtimer mit Mädchen aus dem Dämmerlicht auftauchen.
Kati, nee. Kannst erzählen, was de willst. Ich glaub das nicht. Max macht nur auf dicke Hose.“
Der Gefreite Käsich hatte sich eine Zigarette angezündet und bot Ron Feuer an. Ron sog gierig Rauch ein. Inzwischen hatten die beiden ihre Position getauscht. Ron blickte nun auf das zum Abwurfplatz gehörende Waldgebiet. Eigentlich waren die Kiefern nur schemenhaft zu erkennen.
In Rons Gesicht vollzog sich dabei eine Wandlung. Das Entspannte wich aus seinen Zügen. Konzentriert versuchte er etwas zu erkennen. Was stimmte da nur nicht? Irgendetwas an dem Bild war ungewöhnlich. Wenn es nicht so peinlich gewesen wäre, hätte er Käsich angestoßen und … damit eben eingestanden, dass in ihm gerade eine unbestimmte Unruhe zu Angst wurde. Was war das nur?
Ron drehte sich weg. Krampfhaft versuchte er, sich das Bild der verführerischen Mädchen vorzustellen. Kati, ja, die hatte er stark gefunden.
Ruckartig drehte er sich zurück. Da war es wieder. Nein, anders. Rons Finger verkrampften unbewusst um die MPi. Seinem Partner fiel das nun doch auf. „Eh, Ronny, was ist denn? Spinnst du? Siehst du Gespenster?“
So kommt mir das vor. Ja. Aber sieh doch selbst! Guck dir die Bäume an! Fällt dir nichts auf?“
Auch Käsich musterte nun die sich immer deutlicher abzeichnenden Silhouetten. „Meinst du, ...“
Ich bin doch nicht blöd! Ich hätte gewettet, die Bäume standen vorhin anders.“

Auch Käsich hielt nun seine Waffe fester. ...

Zum letzten Mal FKK

Er lächelte. Alles war doch noch wie in den Jahren zuvor – was er nur gehabt hatte! „Wasserschutzgebiet“. Dasselbe rechteckige Hinweisschild wie eh und je und daneben das dreieckige mit der Eule „Landschaftsschutzgebiet“. Nichts deutete darauf hin, dass hier inzwischen die Außenstation eines biologischen Forschungsinstituts eröffnet haben sollte. Im lokalen Werbeblättchen war dazu ein kleiner Artikel erschienen. Es wurde vor dem wilden Baden im Testsee gewarnt. Man erprobe neuartige Methoden der Sauberhaltung des Wasserbiotops. Biologische. Solche, bei denen alle Stoffe, die komplizierter als H2O waren, radikal und schnell abgebaut würden. Klar. Zu Beginn jeder Saison wurden Storys verbreitet, die den Einsatz von Ordnungskräften gegen die Wildbader von vornherein unnötig machen sollten. Natürlich vergeblich.
Hinter Reinhard ruhte die Reihe der parkenden Autos am Straßenrand. Eindeutig zu viele, als dass sie alle den Anwohnern gehören konnten. Schnell rüber über die Marienstraße. Nun ging es nur noch den schmalen Pfad weiter. Wenn Reinhard jetzt eine Familie im Gänsemarsch oder Radfahrer entgegengekommen wären, hätte er auf den Wiesenrand ausweichen müssen. Es kam aber niemand. Dafür stieß er auf den Hauptweg und der tauchte in ein strauch- und baumkronenüberschattetes Wegstück ein. Man musste schon wissen, wohin man wollte. Er wusste es. Nun kam die nächste Gabelung. Rechts die Strandecke für die Ghetto-Nackten, links der freie Strandabschnitt, an dem sich Nackte und Textilierte relativ harmonisch mischten. Vielleicht die Bekleideten eher weiter hinten, zur Insel hin.
Reinhard wählte den linken Pfad. Das hatte einen Nachteil: Er ging direkt auf den Müllpunkt zu.
Der Müllpunkt war ein typisches Produkt deutscher Bürokratie. Natürlich durfte es an dem See keine Badestelle geben. Wo keine war, konnte es aber auch keine sanitären Einrichtungen, Müllsammelplätze und ähnliche dazu gehörende Dinge geben. Andererseits gab es diese Badestelle seit Jahrzehnten. Richtiger: Es wurde rund um den gesamten See gelagert, um zu baden, nur an dieser Stelle eben geballt. Also hatte irgendwann einmal jemand am Beginn dieses Strandes, der kein Badestrand sein durfte, eine Stange eingepflanzt und an dieser Stange einen großen blauen Plastiksack befestigt. So hätte „man“ dort seinen Müll hineinstopfen können.
Der Sack wurde jeweils Anfang des Jahres ausgetauscht. Reinhard kannte den Platz um den Müllsack nur in immer gleichem Zustand: Etwa im Umkreis von zwei Metern lagen Joghurtbecher und Reste vergangener Zeiten so sorgsam verstreut, als hätten Wildschweine die Hoffnung auf Fressbares zu spät aufgegeben. Vielleicht sollte dieser Anblick die eintreffenden Badelustigen von ihrem Vorhaben abhalten. Schon lange gingen die aber mit galantem Wegseh-Blick daran vorüber. Natürlich auch Reinhard. Diesmal aber hatte der blaue Sack einen Bruder bekommen, und jemand hatte sehr sorgfältig allen herumliegenden Müll beseitigt. Jedenfalls war kein einziges Teil zu sehen, das nicht natürlich gewachsen wäre. Badende waren allerdings so viele am Rand des Sees verstreut wie in den Jahren zuvor.

Reinhard fand es gut. Endlich kümmerte man sich um das Wohlbefinden der Badegäste. Er entledigte sich seiner Kleidung. Achtlos platzierte er sie neben der ausgebreiteten Decke und den Schuhen. Noch ein Kontrollblick: Es waren keine Hirsche in unmittelbarer Nähe. ...